O Pedrouzo → Santiago de Compostela
→ 21,3 Kilometer
↑ 90 Meter
Montag, 02.06.2008
Selten habe ich einen Aufbruch so herbeigesehnt wie an diesem Morgen. Ich will einfach nur weiter – raus aus dieser öden Stadt. Dies steht allerdings im kompletten Widerspruch zu meinem Wunsch, diesen Tag zu begehen – im wahrsten Sinne des Wortes!
Natürlich bin ich erfüllt von der Neugierde, wie es wohl sein wird, anzukommen. Aber ansonsten würde ich viel lieber wieder umgekehren, als bereits an diesem Tag das Ziel zu erreichen. Von daher ist es ein kleiner Trost, dass ich mich noch auf eine „Gnadenfrist“ nach Santiago freuen kann. Drei weitere Tage werde ich bis Finisterre brauchen, und auch die können noch interessant werden. Direkt am Ortsausgang von Pedrouzo betritt man einen ziemlich dichten Eukalyptuswald. Der Geruch der Blätter dieser teilweise imposanten Gewächse dürften eine Wohltat für viele Pilger sein. Die meisten von ihnen leiden nämlich unter starken Erkältungen. Im Vergleich zu denen bin ich mit meiner noch gut davon gekommen. Auch von einer etablierten Darminfektion bin ich zum Glück verschont geblieben.
Trotz der finalen Stimmung gelingt es mir halbwegs, den Weg noch mal zu genießen. Das Wetter und die fast leeren Wege unterstützen mich dabei. Es ist schon fast unheimlich, dass man ausgerechnet so kurz vor Santiago so wenig Pilger wie selten zu vor antrifft. Ich vermute, dass dies ein weiterer Vorteil des insgesamt eher schlechten Wetters ist, da es sich bei den meisten 100-km-Pilgern um Spanier handelt. Und die sind über das aktuelle Klima natürlich bestens informiert und warteten erst mal noch ab.
Die Kilometersteine ziehen nur noch so einem vorbei. 15,5, 15, 14,5 km…
Es dauert nicht lange, da streift der Camino unmittelbar das Areal des Santiagoer Flughafens. Dementsprechend kann ich in regelmäßigen Abständen Passagiermaschinen beim Starten beobachten. Unweigerlich muss ich daran denken, dass auch ich in gut einer Woche hier in einem solchen Flieger sitzen werde. Ich versuche den Gedanken zu verdrängen.
So kommt es, dass ich mein Frühstück ebenfalls direkt am Gelände des Flughafens einnehme. Hier versammeln sich zu diesem Zweck dann doch ein paar mehr Pilger. An einem der draußen stehenden Tische sitzt auch wieder „mein“ Berliner. Also fahre ich mit meinem Flucht-nach-vorn-Programm fort und setze mich zu ihm und seinen Begleiter, um in deren Gesellschaft mein letztes Bocadillo, mein letztes Croissant sowie natürlich den letzten Café con leche grande auf dem offiziellen Jakobsweg einzunehmen.
Die danach verbleibenden 10 Kilometer sind dann doch noch eine ganze Zeit lang sehr belebt.
Vor allem die Pilger selbst sind merklich aufgedreht. Da gibt es einige, die ganz aufgekratzt und scheinbar unendlich mit ihrem Handy am Ohr reden. Andere gehen noch einen Schritt weiter und halten sogar ganze Videokonferenzen ab. Ich lasse diese Leute schnell hinter mir.
Auf dem Berg, von dem aus man den ersten Blick auf die Stadt werfen kann, steht das Papstdenkmal. Leider kann man die Kathedrale von hier aus nur erahnen, da sie von hohen Bäumen größtenteils verdeckt wird. Trotzdem genieße ich diesen Ausblick einige Zeit, bevor er abrupt unterbrochen wird, weil ich plötzlich von lauter deutschen Tourigrinos umspült werde. Wenige Meter weiter hat sich offenbar ein Bus dieser Meute entledigt, und nun ist die Luft erfüllt von süddeutsch babbelnden, älteren Damen- und Herrschaften, für die es anscheinend völlig abwegig ist, dass es auch deutschsprachige Pilger geben könnte. Dementsprechend ungehemmt tauschen sie sich ganz begeistert über den Anblick eines echten Pilgers aus, während man unfreiwillig mitten unter ihnen weilt. Und was waren das noch für Zeiten, als Japaner einen wenigstens fragten, ob sie einen fotografieren dürfen…
Ich sehe abermals zu, dass ich wegkomme.
Als ich das Stadtgebiet erreiche, scheint es fast so, als hätte dieser Ort so gar nichts mit dem Jakobsweg zu tun. Es gibt keine Wegweiser und erstaunlicherweise auch keine Pilger mehr.
Bevor man die Altstadt erreicht, ist man umgeben vom unspektakulären Alltag einer mittleren Großstadt.
Vom Kopf her bin ich meiner Meinung nach völlig entspannt, aber mein Magen hat da, wie so oft, einen ganz anderen Standpunkt…
Trotz der fehlenden Wegweiser erreiche ich ohne Umwege den Altstadtteil. Und obwohl man von der Kathedrale bis zum Schluss nichts entdecken kann, stehe ich plötzlich neben ihr und damit vor dem alten Steintor, durch das man den großen Vorplatz dieses imposanten Bauwerks betritt. Ich bleibe einen Augenblick davor stehen und sammle mich. Dann schreite ich mit ein wenig weichen Knien, begleitet von einem Dudelsackspieler hindurch.
Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags, als ich genau vor dem Gebäude stehe, dass ich schon in so vielen Büchern, Reportagen und nicht zuletzt auf den Rückseiten der spanischen Cent-Münzen gesehen habe. Angekommen (→ SV).
Ich setze mich erst mal an einen der Pfeiler des gegenüberstehenden Gebäudes und versuche diesen Moment zu verinnerlichen. Auf dem Platz sehe ich immer wieder Pilger, die sich in die Arme fallen. Sie machen Fotos voneinander sowie von der Kathedrale und setzten sich irgendwo auf den Platz. Lange Zeit ist kein bekanntes Gesicht unter ihnen zu entdecken.
Doch irgendwann taucht die Italienerin auf, der ich schon ein paar Mal begegnet bin. Sie ist bereits das zweite Mal hier in Santiago und kennt sich dementsprechend aus. Somit schließe ich mich ihr an, und wir suchen gemeinsam das Pilgerbüro auf (→ SV). Im Treppenhaus dieses Gebäudes stehen schon etliche Pilger schlange, um sich ihre Compostela abzuholen. Als ich bereits ganz vorn am eigentlichen Eingang zum Büro stehe, schnellt plötzlich jemand von hinten nach vorn auf meine Höhe und macht ein Foto von mir. Als er die Kamera wieder senkt, blicke ich in das breit grinsende Gesicht von Daniel. Ich freue mich riesig ihn hier wieder zu sehen.
Als ich endlich an den Tresen im Büro trete, bekomme ich den letzten Stempel in meinen Pilgerpass.
Für diesen ist zum Glück ein eigener Platz vorgesehen, da alle anderen Felder komplett sind.
Zusammen mit der Italienerin geht es danach zur Herberge am Rande der Altstadt (→ SV). Auch hier gilt es, noch mal schlange zu stehen, ehe ich das Bett mit der Nummer 2033 zugeteilt bekomme. Das Gebäude ist zwar riesig, aber ich denke, dass die erste Ziffer nur für die Etage steht…
Nachdem das Einzelbett „bezogen“ und die Sachen dort abgelegt sind, mache ich mich direkt wieder auf in die Stadt. Immerhin steht ja ziemlich bald das allgemein verabredete Treffen vor der Kathedrale an.
Aber bis dahin schlendere ich noch ein wenig durch die Straßen und Gassen. Als ich an einem Café in unmittelbarer Nähe der Kathedrale vorbeikomme, sind es schon wieder Heather und Karen, die mich zu sich an den Tisch rufen. Es dauert nicht lange, da tauchte auch Daniel wieder auf und gesellt sich dazu. So sitzen wir eine ganze Zeit unterhalten uns, ehe die beiden Mädels aufbrechen. Daniel und ich drehen ebenfalls noch eine gemeinsame Runde. Dabei treffen wir unter anderen auf Brigitte, die noch ein paar Besorgungen macht. Wir unterhalten uns kurz und verbleiben dann bis zum großen Treffen.
Und dann ist es endlich 17:00 Uhr. Daniel und ich sind so ziemlich die Ersten, aber es dauert nur wenige Minuten, da kreuzt ein bekanntes Gesicht der letzten Tage und Wochen nach dem anderen auf. Es gibt ein großes Wiedersehen, und es folgen die Umarmungen und die Fotoarien, die ich noch am Nachmittag von außen beobachtet hatte.
Als wir damit durch sind, ziehen wir um die Kathedrale herum und stellen uns auf deren Rückseite vor einer Bar diverse Tische und Stühle zusammen.
Mit über 20 Leuten sitzen wir dort und reden kreuz und quer bei diversen Flaschen Wein.
Ausgerechnet jetzt, genauer gesagt, schon bereits beim Treffen, versagt mein Kameraakku, und der Ersatz liegt in der Herberge. Also sprinte ich rüber in unser aller Domizil. Wobei nicht ganz „unser aller“: Daniel hat sich hier, wie auch schon die letzten 12 Wochen (er ist bereits in Le Puy gestartet) eine Pension genommen. Und ausgerechnet er ist leider nicht mehr da, als ich zu der Runde zurückkehre. Fabienne richtet mir einen schönen Gruß von ihm aus. Er dachte, ich hätte mich bereits zurückgezogen. Etwas enttäuscht über diesen unglücklichen Abschied, wird mir auch ansonsten so langsam bewusst, dass dies die letzten ein, zwei Stunden von einer Zeit sind, die ich mit Sicherheit zu einer der schönsten meines Lebens zählen werde.
Irgendwann fragt mich Brigitte, was mit mir los ist. Ich sei heute so anders, fast anstrengend. Darauf hin erwidere ich, dass sie, wenn sie dies so empfindet, mich einfach in Ruhe lassen bzw. ignorieren soll. Sie zeigt Verständnis und meint, dass sie meinen Humor heute vermissen würde.
Von da an dauert es nicht mehr lange, und es ist für jeden in der Runde offensichtlich, dass mir das Ende nicht gerade leicht fällt. Und nur wenige Sekunden später habe ich vier, fünf Leute um mich herum, die es mir damit nur noch schwerer machen, mich wieder zu sammeln. Als es mir dann doch endlich gelingt, schenkt mir Christine plötzlich ihren Ansteckpfeil, der von diesem Augenblick an das Erbe meines eigenen bis dahin immer getragenen antritt (und dies auch noch bis heute regelmäßig tut).
Irgendwann ist es dann soweit, und es heißt sich von so einigen Leuten zu trennen. Auch von Brigitte verabschieden wir uns, da sie am nächsten Tag mit dem Bus bereits vorfahren will. Aber sie verspricht in Finisterre auf uns zu warten.
Als sich die Runde aufgelöst hat, beschließen Christine, Fabienne sowie Siebrecht (einer von zwei Belgiern, mit denen Fabienne fast den ganzen Camino zusammen unterwegs war), noch etwas essen zu gehen. So genießen wir in einem kleinen Hinterhof vor einer Bar diverse Tappas bzw. ich mein letztes Pilgermenü.
Kurz bevor wir dann in der Herberge unsere Betten aufsuchen, die über diverse Etagen und Flügel des Gebäudes verteilt sind, verabschiede ich mich auch von den Belgiern sowie von Christine.
Fabienne fragt mich, wann ich denn am nächsten Tag starten will. Daraufhin antworte ich nur: „Also jedenfalls nicht um 6:30 Uhr…!“
„So werden wir niemals Freunde…!“ kontert sie mit einem Augenzwinkern und wünscht mir eine gute Nacht.
(über die Sitemap lassen sich die Tage gezielt aufrufen)